Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU und der FDP für ein Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid Drucksache 18/ 2727 Hessischer Landtag 18. WP
Verfasst von Eckhard Kochte, Frankfurt am Main, den 13.10.2010
Zusammenfassung
Der vorliegende Gesetzentwurf von CDU und FDP bringt aus der Sicht von Mehr Demokratie e.V. Hessen keine echte Verbesserung der unbefriedigenden Rechtslage zu Volksbegehren und Volksentscheid und ist daher abzulehnen. Der Gesetzentwurf reduziert das Problem der demokratischen Defizite in Hessen auf Randkriterien und blendet die tieferen Ursachen und Zusammenhänge aus. In der knappen Pflichtanalyse des Problems auf dem Beiblatt ist zwar davon die Rede, dass aufgrund des bestehenden Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid zu wenige Volksbegehren initiiert werden, aber es wird die viel wichtigere Tatsache verschwiegen, dass es in Hessen noch nie einen vom Volk eingeleiteten Volksentscheid gab. Dass dafür nicht allein das Gesetz, sondern vor allem die Hessische Verfassung schuld ist, findet keine Erwähnung. Als Lösung für das verzerrt beschriebene Problem schlagen die Fraktionen der CDU und FDP vor, das Zulassungsquorum von drei auf zwei von Hundert der Stimmberechtigten zu senken und die Frist für das Eintragungsverfahren von zwei Wochen auf zwei Monate zu verlängern. Mit seiner scheinbaren Großzügigkeit in der Erleichterung von bürokratischen Auflagen täuscht der Gesetzentwurf demokratischen Fortschritt vor, stellt aber nur ein scheindemokratisches Feigenblatt dar. Er bleibt weit hinter den Notwendigkeiten der gesetzlichen Anpassung an die Ansprüche der Bürger auf politische Teilhabe zurück.
Der Gesetzentwurf enthält folgende Unzulänglichkeiten:
• Die vorgeschlagene Senkung des Zulassungsquorums von drei auf zwei Prozent der Stimmberechtigten und die Verlängerung der Einschreibefrist von zwei Wochen auf zwei Monate sind zwar als Schritt in die richtige Richtung zu begrüßen, jedoch sind diese halbherzigen Maßnahmen nicht geeignet, den Wahlbürgern eine substantielle Beteiligung an der Gestaltung des Gemeinwesens außerhalb von Wahlen zu ermöglichen.
• Das im Gesetzentwurf ignorierte, praktisch unüberwindliche Beteiligungsquorum beim Volksbegehren nach Artikel 124 bleibt unverändert. Dort wird verlangt, dass ein Fünftel der Stimmberechtigten (= 20%) dem Volksbegehren für einen Volksentscheid zustimmen muss.
• Mit Ausgaben verbundene Gesetze sind nach Artikel 124 nach wie vor von der Volksgesetzgebung ausgeschlossen. Das Volk kann infolge dieser Hürde nur verhindernde, jedoch keine aufbauenden Volksbegehren einleiten.
• Die Eintragungslisten für ein Volksbegehren können nach dem Gesetzentwurf leider -wie bisher- nur in den Amtsräumen der Gemeindebehörden unterschrieben werden. Straßensammlungen von Unterschriften, die allein die nötigen Unterstützerstimmen für ein Volksbegehren bringen können, sind weiterhin nicht erlaubt.
Bisher hat in Hessen noch nie eine Volksabstimmung von unten stattgefunden, und dieser Umstand wirft ein schlechtes Licht auf die Praxis der politischen Teilhabe der Bürger. Freilich liegt das nicht nur am Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid von 1950, das nun geändert werden soll, sondern auch an Hindernissen in der Hessischen Verfassung. Die Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung durch Volksentscheide, die in der Hessischen Verfassung im Artikel 116,1 -sogar noch vor der legislativen Funktion des Landtages- genannt wird, besitzt höchsten Verfassungsrang. In der politischen Praxis werden Volksentscheide aber nicht bloß vernachlässigt, sondern mit Vorsatz vereitelt. Im Jahre 1946, als die Hessische Verfassung in Kraft trat, hatte man noch andere Sorgen und Ziele, und die Erfahrungen aus der Weimarer Republik mit Volksabstimmungen waren einfach nicht ausreichend, um über die Wirkung von Beteiligungshürden brauchbare Vorhersagen machen zu können. Es war in den Nachkriegsjahren nicht abzusehen, dass ein Beteiligungsquorum von zwanzig Prozent und die Beschränkung der Frist für die Unterschriftensammlung auf zwei Wochen ausschließlich in Amtsstuben dazu führen würde, dass überhaupt kein Volksentscheid stattfindet. Selbst wenn seinerzeit aufseiten der Verfassungsgeber dazu Bedenken bestanden haben, waren diese nicht ausschlaggebend, da man 1946 auf eine neue deutsche Republik wartete und die Hessische Verfassung als Provisorium empfand. Immerhin haben die Urheber der Hessischen Verfassung in weiser Voraussicht, auch im Rückblick auf die Erfahrungen der Weimarer Republik, daran gedacht, dass Änderungen der Verfassung nicht ohne das Volk durchzuführen sind und nicht den Volksvertretern allein überlassen werden dürfen. Die Politiker werfen den Bürgern vor, sie würden immer nur gegen etwas demonstrieren. Diese zweifellos bestehende Einseitigkeit des bürgerlichen Engagements ist die Folge der Unmöglichkeit, sich für etwas einzusetzen, das Geld kostet und damit in die Haushaltshoheit des Parlaments eingreift. Der Gesetzentwurf befasst sich nur mit einer Regelung, die keiner Verfassungsänderung bedarf. Im Hinblick auf die tragende Bedeutung des Prinzips „Demokratie“ für das Gemeinwesen darf aber eine Verfassungsänderung nicht ausgeschlossen werden.
Mehr Demokratie e.V. erwartet vom Hessischen Landtag eine über den vorliegenden Gesetzentwurf hinausgehende Behebung der demokratiefeindlichen Hürden für das Volksbegehren und den Volksentscheid und schlägt vor:
1. Das Zulassungsquorum für den Antrag auf ein Volksbegehren ist auf ein von Hundert der Stimmberechtigten zu senken.
2. Das Beteiligungsquorum für ein Volksbegehren ist auf fünf von Hundert der Stimmberechtigten zu senken.
3. Die Frist für die Unterstützung des Volksbegehrens ist auf drei Monate zu verlängern.
4. Der Ausschluss von Themen, die mit Ausgaben verbunden sind, ist aufzuheben.
5. Die Sammlung der Unterschriften muss auch außerhalb von Amtsräumen möglich sein. In der Verfassung ist hierzu nichts festgelegt, somit kann dies durch ein einfaches Gesetzt geregelt werden.
6. Die Hessische Verfassung ist, soweit erforderlich, zwecks Erfüllung der vorgenanten politischen Anliegen zu ändern.
Begründung
Zu 1.) Für den Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens, der ja erst noch von der Landesregierung auf Zulässigkeit überprüft wird, sollte als Hürde der Ernsthaftigkeit zur Einleitung eines Volksbegehrens ein Quorum von einem Prozent der Wahlberechtigten völlig ausreichen, um unsinnige oder gemeinschädliche Anliegen auszuschließen. Da der Antrag auf Zulassung einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf enthalten muss, tun die Antragsteller gut daran, größtmögliche Sorgfalt walten zu lassen, denn spätere Änderungen im Verlauf des Verfahrens sind dann nicht mehr möglich. Die Antragsteller, die beträchtliche Kosten, Mühe und Zeit aufwenden, werden nur nach reiflicher Überlegung und mithilfe kompetenter Beratung ein Volksbegehren beantragen.
Zu 2.) Als Beteiligungsquorum für ein Volksbegehren sind fünf von Hundert der Stimmberechtigten völlig ausreichend. Ein Volksbegehren stellt ja nur eine Art Messung des Grades der öffentlichen Bedeutung und bringt noch keine endgültige Entscheidung. Alle Staatstheoretiker sind sich einig, dass eine Beteiligungshürde von zwanzig Prozent für ein Volksbegehren praktisch unüberwindlich ist. Wer diese Hürde nicht senken will, tut damit unausgesprochen kund, dass er den bestehenden Zustand beibehalten will, somit das Volk von seinem Recht auf Teilhabe an der Gesetzgebung nach Artikel 116, 1a der Hessischen Verfassung weiterhin ausschließen will.
Zu 3.) Das bisherige Gesetz sieht für die unterstützende Eintragung bisher nur zwei Wochen vor, während der Gesetzentwurf für eine Änderung immerhin in Zukunft zwei Monate einräumt. In kleinen Gemeinden sind derartige Hürden durchaus überwindbar, aber in größeren Städten lassen sich selbst in zwei Monaten die Wahlbürger nicht in genügender Zahl mobilisieren.
Zu 4.) Es gibt demokratietheoretisch keine vernünftige Rechtfertigung, das Volk von der Verfügung über seine Steuern und Abgaben auszuschließen. Das Volk verschwendet keine öffentlichen Mittel, um damit Wahlgeschenke zu machen, und es verzichtet nicht auf Steuereinnahmen, um eine bestimmte Klientel zu bedienen. Der unsinnige Länderfinanzausgleich in der Bundesrepublik, mit seinen absurden fiskalischen Nebenwirkungen, ist ein abschreckendes Beispiel für die strukturelle Erschwernis, öffentliche Mittel auf parlamentarischem Weg vernünftig auszugeben. Die Volksvertreter und Amtsträger sind mittlerweile im Teufelskreis von Wahlgeschenken, Fehlallokationen und Verschuldung gefangen und betreiben nur noch die Verwaltung von Defiziten. Das Vorbild der Schweiz zeigt uns, dass bei volksunmittelbarer Steuergesetzgebung und Haushaltsplanung der Staat mit der Hälfte an Steuern und Abgaben auskommt und deren Gebietskörperschaften so gut wie schuldenfrei sind. Ein Staatsbankrott oder eine Hyperinflation durch Staatsverschuldung ist in der Schweiz undenkbar, während man dies für Deutschland leider nicht mehr ausschließen kann.
Zu 5.) Eine Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren ausschließlich in den Amtsräumen der Gemeindeverwaltung schreckt viel Bürger ab, die ein bestimmtes Volksbegehren unterstützen möchten. Selbst eine Verlängerung der Frist für die Unterschriftensammlung von illusorischen zwei Wochen auf scheinbar großzügige zwei Monate wird den psychologischen Effekt der Schwellenangst bei den meisten Wahlbürgern nicht aufheben. Bei einer Straßensammlung, die zugleich dem vernachlässigten öffentlichen Diskurs dient, können standardisierte und fälschungssichere Unterstützerunterscherschriften gesammelt werden. Die Unterschriftenlisten werden ohnehin von der jeweiligen Gemeindeverwaltung auf ihre Richtigkeit geprüft, wobei es keinen Mehraufwand bedeutet, Straßenunterschriften zu prüfen.
Zu 6.) Es genügt nicht, zur Verwirklichung demokratischer Teilhabe eine Gesetzesänderung an ein paar Formalitäten durchzuführen, womit aber –aus Absicht oder Nachlässigkeit- nichts Grundsätzliches geändert wird. Vielmehr muss zunächst die Hessische Verfassung mindestens im Artikel 124 überarbeitet werden. Dazu sind die absolute Mehrheit des Landtages und die einfache Mehrheit der Stimmbürger erforderlich, ein erprobtes Verfahren, das bereits anlässlich weniger bedeutsamer Themen durchgeführt wurde.
Die Notwendigkeit einer Reform der Hessischen Verfassung
Die bestehenden Demokratiedefizite und die daraus resultierende Politikverdrossenheit in Hessen sind mit dem vorgeschlagenen Gesetzesentwurf allein nicht zu lösen. Es bedarf vielmehr einer Änderung der Hessischen Verfassung, mindestens in den Artikeln 123 und 124. Bei dieser Gelegenheit empfiehlt es sich, auch sonstige Altlasten, Fehler und Unzulänglichkeiten der Verfassung zu beseitigen. Zu einer umfassenden Überarbeitung der hessischen Verfassung waren bereits im Jahre 2005 die Fraktionen des Hessischen Landtags bereit, nicht jedoch die Regierung Koch. Inzwischen haben sich nicht nur die Köpfe, sondern hoffentlich auch die politischen Auffassungen geändert.
Das hessische Verfassungsprovisorium von 1946 bedarf einer grundlegenden Überarbeitung, einfache Gesetze zur Konkretisierung der Verfassungsformeln reichen nicht mehr aus. Nach über sechzig Jahren haben sich die politischen Verhältnisse in Deutschland und Hessen und die Erwartungen der Bürger an politische Partizipation erheblich geändert. Bei einer Überarbeitung der Verfassung sollten auch diejenigen Artikel bearbeitet werden, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, oder in Konkurrenz zum Bundesrecht stehen oder einfach überholt sind.
Die Vorkommnisse der letzen Zeit haben die zunehmende Kluft zwischen dem Volk und der politischen Klasse eindrucksvoll dargelegt, und es ist zu befürchten, dass bei Fortbestand des Ausschlusses des Volkes von der Gemeinwaltung nicht nur die allgemeine Politikverdrossenheit zunimmt, sondern auch der politische Friede im Land zerbricht. Der Gemeinfriede im Land kann auf Dauer nur gesichert werden, wenn die Volksvertreter das Volk an der staatlichen Willensbildung beteiligen.
Die Volksvertreter haben kein Monopol der Gesetzgebung, wie es auch der Artikel 116 der hessischen Verfassung ausdrücklich feststellt, und das Volk fordert legitimer Weise sein Recht als Souverän des Staates. Die politische Klasse hält sich für befugt, dem für unwissend, egoistisch und launisch gehaltenen Volk echte demokratische Beteiligung vorenthalten zu können. Eine solch gefährliche Masse gilt es –nach Meinung der Politiker- von der staatlichen Willensbildung fern zu halten. Vor allem sind die vermeintlich einfältigen und störrischen Bürger immer gegen, und nicht für die Pläne der Obrigkeit, wie es sich in einem ordentlichen Staat gehört. Schließlich meinen es die Regierung und das Parlament doch nur gut mit dem Volk, und sie haben die kundigsten Fachleute als Berater, auch wenn diese sonst für nichtstaatliche Interessenträger arbeiten.
Bisher wurde die politische Klasse vom Besitz- und Bildungsbürgertum, aus dem sie ihre Funktionsträger rekrutiert, in ihrer volksfeindlichen Auffassung gestützt. Das politisch ausgegrenzte, desinformierte und verunsicherte Volk reagiert –begründet oder nicht- mit Ablehnung auf verdächtige Politik von „denen da oben“. Es weiß zwar nicht mehr als seine Vertreter, aber es trägt die oft schmerzhaften Folgen von falschen politischen Entscheidungen, während politische Verantwortungsträger von ihren Verfügungen selten betroffen sind und sich –mit Pfründen wohlversorgt- gerne aus der Verantwortung stehlen.
Die drohende Unregierbarkeit des Landes und die Undurchsetzbarkeit von kulturellen Neuerungen oder technischen Projekten beruhen nicht zuletzt in der Anmaßung der gewählten Obrigkeit, in der Gemeinwaltung alles alleine, ohne Volksbeteiligung und allzu oft gegen den Volkswillen regeln zu wollen. Es genügt nicht, angeblich etwas Gutes zu planen, es muss auch denjenigen zusagen, die davon betroffen sind, die es zu bezahlen und letztlich seine Folgen zu tragen haben. Selbst wenn ein politisches Projekt tatsächlich gut ist, darf in einer echten Demokratie das Volk dazu Nein! sagen.
Die Ablehnung des Volkes gegen die bevormundende Politik kommt auch vom Verlust an Vertrauen in die Fähigkeit der Politiker, Probleme zu lösen und Schaden vom Volk abzuwenden. Im Laufe der letzten Jahre ist das Vertrauen der Wähler in ihre Vertreter infolge deren Eigenmächtigkeiten, der Undurchsichtigkeit der Entscheidungsverfahren und der beängstigenden Fremdbestimmung durch nichtlegitimierte Entscheidungsträger nachhaltig beschädigt worden.
Die Durchsetzbarkeit von politischen Projekten sollte -wie in der Schweiz erfolgreich praktiziert- vorauseilend den mutmaßlichen Willen des Volkes beachten. Nicht zuletzt sollten Volksvertreter dankbar sein, wenn sie die Verantwortung für unbeliebte und scheinbar undurchsetzbare Vorhaben mit dem Volk teilen können, indem sie das Volk abstimmen lassen. Bei einem ehrlichen öffentlichen Dialog und dem Bewusstsein der Bürger, dass sie mitentscheiden dürfen, lösen sich manche ablehnenden Überzeugungen vermutlich von selbst auf.
djo
Ich finde diese Stellungnahme zwar in vielen Punkten gut und bin auch damit einverstanden, jedoch gefallen mir einige Formulierungen nicht! Es sind besonders solche Begriffe wie "volksfeindlich, "politische Klasse", usw., die wir m.M. nach entschärfen sollten.